An Israels Seite

Die Bilder vom 7. Oktober gehen mir nicht aus dem Kopf. Die Welt ist wieder eine andere geworden und mir ist schwindelig.
Mein bisherige Idee ist, dass wir in unserer Gemeinde und in Deutschland dringend ein Gespräch brauchen über Positionierungen und Aussagen nach dem Terrorüberfall.
Der terroristische Überfall der Hamas auf Israel ist die größte Gewalt- und Greueltat an jüdischen Menschen seit mehr als 70 Jahren. Er ist ein unfassbarer Akt der Barbarei an Kindern und wehrlosen Zivilisten.
Wir haben schnell ein großes Plakat an der Wand der Friedenskirche aufgehängt, wo sonst Konzerte oder Weihnachten angekündigt werden.
Man kann es gut sehen, es hat die Maße 3 x 3 m, zu lesen ist „Seite an Seite mit Israel“. „Seite an Seite“ mit Israel meint jetzt, dass wir nach dem grauenhaften Überfall an der Seite Israels stehen und unsere Position ist: Wir lehnen gemeinsam mit Israel und allen Menschenfreunden diese Art der Gewalt an Schutzlosen und das Verstecken von Geiseln hinter unschuldigen Menschen uneingeschränkt ab.
Der Satz auf unserem Banner unter den beiden Fahnen von Deutschland und Israel – wie sie in Ratingen, Düsseldorf und Berlin vor offiziellen Häusern jetzt als Zeichen zu sehen sind – bedeutet also nicht, dass wir Krieg befürworten, oder für Verstöße gegen das Völkerrecht wären. Und er bedeutet nicht, gegen Palästinenser zu sein und ihr Leid und Elend nicht zu sehen.

In der zweiten Nacht wurde die Botschaft an der Friedenskirche übrigens zuerst bespuckt, das berichten Zeugen, und anschließend mit einem Messer zerschnitten. Wir fanden die Plane in zwei Teilen, haben sie mit Klebeband geflickt und wieder aufgehängt .
Die Kirche hat ein besonderes Verhältnis zu Israel, weil wir, die Völker der Heiden, erst durch den Juden Jesus von Nazareth in den Bund Gottes mit Israel aufgenommen wurden, Juden daher unsere älteren Geschwister im Glauben sind. Die Rheinische Kirche hat das 1980 in einem wegweisenden Beschluss zur Erneuerung des Verhältnisses von Kirche und Israel ausgedrückt, in dem u.a. die Judenmission abgelehnt wird. Auf unseren Israelreisen treffen wir uns regelmäßig auch mit Palästinensern, sind Gäste in ihrem Haus in der Nähe von Bethlehem, hören ihre Sicht und lassen uns ihre Geschichte erzählen. Wir teilen daneben auf den Jugendreisen für einen Tag den Alltag mit behinderten Kindern und Jugendlichen im Projekt „Lifegate“. Das von dem Deutschen Burkhardt Schunk initiierte Projekt tritt für ein selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Behinderungen ein, trägt zur Verbesserung ihrer Situation und Integration in die palästinensische Gesellschaft bei, um die sich sonst niemand kümmert.
Freiwillige von uns wirkten dort schon für mehrere Monate mit. Als ev. Kirche Ratingen sammeln wir seit 2017 Spenden für das Projekt, ich unterstütze Lifegate auch privat.
Wie in jedem Konflikt gibt es Anteile, unheilvolle Erfahrungen und Leid auf beiden Seiten. Hier ist ein Teufelskreis entstanden. Die ev. Kirche pflegt auch Kontakt zu  Organisationen, die auf beiden Seiten Brücken bauen und wir hören dabei von unseren Partnern, wie wichtig und wie schwer ihre Arbeit ist.
Unser Partner Georg Rössler, der hier in der Friedenskirche schon oft zu Besuch war, schickte mir diese Woche eine lange Nachricht, in dem er nur Fragen stellte, weil er der Meinung ist, jetzt sei Zeit für Fragen und nicht für schnelle Antworten oder Urteile. Ganz am Ende schreibt er:
„Der gegenwärtige Konflikt kann uns die Vision des Friedens als dem großen Ziel der Menschheitsgeschichte in Erinnerung rufen. Und dann: Die großen Krisen der letzten 100 Jahre führten immer wieder auch zu einem Paradigmenwechsel, der Möglichkeit, sich aus eingeübten Mustern zu befreien, etwas völlig Neues zu denken und dann auch entstehen zu lassen...Hoffen wir darauf.“ Zitatende!
Hoffen wir darauf, beten wir für den Frieden und führen den Dialog mit Worten anstatt mit Raketen und Gewalt.

Pastor Thomas Gerhold, Vors. 21. Oktober 2023